Aufbrezeln, abpudern, anstoßen

Br.-Vilsen - Von Felix Gutschmidt. Rudi Köhlke ist die Heidi Klum der Rummelplätze. Der 53-jährige Hamburger moderiert in Bruchhausen-Vilsen die Wahl zur Miss Brokser Heiratsmarkt zum 12. oder auch zum 16. Mal – so ganz sicher ist er sich da selbst nicht. Als am Freitagabend die Kandidatinnen im Bikini auf die Bühne des Musikladen-Zelts kommen, tritt er in den Hintergrund und genießt die Aussicht neben DJ Hendrik Treuse. „Einen tollen Platz hast du hier“, sagt Köhlke mit Blick auf acht knackige Pos.
Anja von Issendorff hat so etwas noch nie gesehen. „Wow“, sagt die 29-Jährige, als die spätere Miss Brokser Heiratsmarkt, Jessica Niebuhr, in High Heels auf die Bühne kommt. „In diesen Schuhen könnte ich nicht laufen.“ Muss sie auch nicht. Sie ist keine Miss-Kandidatin, sondern Pastorin und zum ersten Mal auf dem Brokser Markt. Am Sonntag feiert sie einen Gottesdienst im Remmer-Zelt. Letzte Details für ihre Predigt sucht sie noch, und wo gäbe es mehr Anregungen als auf einem Volksfest? „Gott ist da, wo die Menschen sind“, sagt sie und stürzt sich ins Getümmel.
„Einmal abräumen, freie Auswahl.“ Im Minutentakt plärrt die Stimme aus dem Lautsprecher der Dosenwurfbude den immergleichen Satz. Amadou Niang am Stand gegenüber stört das nicht. Seit 45 Jahren handelt er auf dem Brokser Markt mit allerlei Krimskrams. Das etwa 15 Quadratmeter große Zelt quillt über von Sonnenbrillen, T-Shirts, Hüten, Tüchern und Taschen.
Als er 1970 zum ersten Mal hierher kam, hatte er nichts als einen Teppich und ein paar geschnitzte Elefantenfiguren. Damals fuhr die Eisenbahn noch über das Marktgelände. Jedes Mal, wenn ein Zug kam, musste Niang sich und seine Habseligkeiten in Sicherheit bringen. Noch nerviger für ihn war der damalige Marktmeister. Der habe ihn vom Gelände geworfen und ihm erklärt, er müsse seinen Stand ordentlich anmelden, wenn er auf dem Brokser Markt etwas verkaufen wolle. Niang folgte dem Rat. Heute weiß der 64-Jährige die deutsche Gründlichkeit zu schätzen. Für die aktuellen Organisatoren Ralf Rohlfing und Christina Meier findet er nur lobende Worte. „Die sind die besten! Denen habe ich viel zu verdanken.“ Eigentlich habe er das Geschäft an seine Kinder abgegeben, aber den Brokser Markt lasse er sich nicht entgehen. „Es ist immer gutes Wetter, und die Atmosphäre ist super“, sagt der Senegalese.
Einen Eindruck von der Stimmung auf dem Markt gibt es – fast rund um die Uhr – im Remmer-Zelt. Freitag, Samstag, Sonntag tanzen die Gäste dort, angetrieben von DJ Toddy, auf den Bänken.
„Das ist schon Wahnsinn“, sagt Wirt Uwe Stoffregen am Sonntagmorgen kurz vor Beginn des Gottesdienstes. „Vor fünf Stunden war hier noch volles Rohr Party.“ 600 Sitzplätze gibt es im Zelt. Wie viele Tausend Menschen dort am Wochenende ein- und ausgehen, vermag Stoffregen nicht zu sagen. Und wie viel Bier hat er bislang ausgeschenkt? Der Wirt lächelt. „Das ist nichts für die Zeitung“, sagt er und deutet auf ein Schild. „Männer haben auch Gefühle. Zum Beispiel Hunger oder Durst“, steht darauf.
Zurück im Musikladen-Zelt, etwa eine halbe Stunde vor der Miss-Wahl: „Mädels, ich habe euch Sekt bestellt.“ Rudi Köhlke und die acht Kandidatinnen sitzen in einem kleinen Zelt hinter der Bühne auf Bierbänken. Mandy Diester sagt, sie würde am liebsten die ganze Flasche trinken, so nervös ist sie. Der Moderator hat eine bessere Idee: „Schreib doch mal die Teilnehmerliste für die Jury ab, du hast so eine schöne Schrift.“ Die Generalprobe haben die jungen Frauen bereits hinter sich gebracht. Jetzt treffen sie die letzten Vorbereitungen für ihren Auftritt. Es ist ein bisschen wie bei Heidi Klums Topmodels. Der große Unterschied ist: Hier schaut niemand zu.
Während sich das Marktgelände immer weiter füllt, machen die Besucher um das Musikladen-Zelt zu dieser frühen Stunde noch einen Bogen. Abgesehen von ein paar Fotografen scheint kaum jemand Notiz von der Miss-Wahl zu nehmen. Dabei hatte die Miss Germany Corporation den jungen Frauen „eine große Chance“ versprochen, „im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen“.
Während die Frauen erst im Abendkleid und dann im Bikini auf Pfennigabsätzen über die Bühne staksen und freundlich ins leere Zelt lächeln, sagt Köhlke, woher die Kandidatinnen kommen und was sie so machen. Nummer vier – Mandy mit der schönen Handschrift – macht eine Ausbildung zur Zimmerin, Nummer drei, auch bekannt als Marie Kaiser, möchte einmal Luxusmarkenmanagerin werden (was auch immer das ist). Die eine modelt gerne, die andere geht regelmäßig mit ihrem Hund spazieren. Alle hören viel Musik und treffen sich gerne mit Freunden. Schön, aber leider interessiert das niemanden im Zelt.
Wobei: Jens Wlodarczak verfolgt das Geschehen auf der Bühne sehr genau. Aber er hat nur Augen für seine Tochter Jana mit der Startnummer sieben. Die 24-Jährige aus Bücken hat schon bei Schönheitswettbewerben in Buchholz und Bad Zwischenahn mitgemacht, erzählt er. Die eigene Tochter dort auf der Bühne zu sehen, sei ein schönes Gefühl. „Ich würde mich das nicht trauen“, sagt er. Am Ende muss sich die 24-Jährige mit dem Vizetitel, einer Schärpe in den Deutschlandfarben und einer Tüte voller Make-up zufriedengeben. Immerhin ist sie nun offiziell die zweitschönste, deutsche, ledige, kinderlose Frau im Alter zwischen 16 und 28 Jahren auf dem Brokser Markt, die bisher keine Oben-ohne- oder Nacktfotos von sich hat machen lassen.
Im Remmer-Zelt steigt Anja von Issendorff am Sonntagmorgen auf die Bühne und atmet tief durch. In der Luft liegt der Duft vom Bier der vergangenen Nacht. Der Pastorin gefällt das. Schließlich feiert sie nach eigenen Angaben selbst gerne. Vor ihrem ersten Wochenende auf dem Brokser Markt hatte sie noch Bedenken. Wenn so viele Menschen auf engem Raum sind und wenn Alkohol im Spiel ist, kann die Stimmung schnell kippen. „Aber alles war friedlich. Ich habe keine Gewalt und keinen Hass erlebt.“ Für sie seien bisherigen die Tage auf dem Markt deshalb „ein bisschen wie Urlaub“, weil sie den Menschen Gelegenheit geben, aus dem Alltag auszubrechen, sagt sie beim Gottesdienst.
Von Issendorff schenkt der Gemeinde Tickets für eine Reise mit Gott ins Abenteuerland. „Gott will, dass wir das Leben genießen und auch mal über die Stränge schlagen.“ Und bevor sie den Segen spricht, erinnert sie Uwe Stoffregen an ein Versprechen: Sie bekommt das erste Bier des Tages.